EMOP Opening Days Fotofilm-Reihe
Chris Marker La Jetée (F 1962), 28 Min.
Agnès Varda Salut les Cubains (F 1963), 30 Min.
Jutta Brückner Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepenbrink (1975), 65 Min.
Helke Misselwitz 35 Fotos – Bilder aus einem Familienalbum (1984/85), 7 Min.
Peter Nestler Väntan (Das Warten, 1985), 6 Min.
Marc Thümmler Radfahrer (2008), 27 Min.
Tina Bara Lange Weile (2017), 60 Min.
Elfi Mikesch Wünsdorf (2020), 32 Min.
Der Fotofilm ist ein eigenes Genre: Er basiert auf Fotografien, auf unbewegten Bildern, die als Bewegung wahrgenommen werden und sich zu einer Erzählung fügen. Sie kann ebenso fiktional wie dokumentarisch sein. Die Fotos stammen aus Archiven, Fotoalben oder sind, wie bei La Jetée, eigens inszeniert. Momentaufnahmen befragen das Medium Film auf sein Wesen hin, Stillstand und Bewegung.
Filmemacher*innen haben immer wieder Fotos als Basis ihrer künstlerischen Arbeit genutzt; mittels Kommentar und Montage einen neuen Kontext kreiert. So Jutta Brückner, die den Familienbildern, begleitet von dem Monolog ihrer Mutter, in Tue recht und scheue niemand Fotos u. a. von August Sander und Abisag Tüllmann hinzufügt, um zur Verallgemeinerung von gesellschaftlichen Verhältnissen zu kommen. Agnès Varda bezieht sich ganz auf die von ihr gefertigten 1.500 Fotos, die während einer Kuba-Reise entstanden sind, und erzählt von der Verschränkung von Politik und Alltag im sozialistischen Inselstaat.
Väntan (Das Warten) von Peter Nestler gründet auf Material, das das schwedische Fernsehen verkaufen wollte. Um auf diesen Vorgang hinzuweisen, macht er einen Film über ein Grubenunglück in Schlesien in den 1930er Jahren, indem er die rauen Arbeitsverhältnisse beschreibt.
Drei Filme der Reihe setzen sich mit der ehemaligen DDR auseinander: Helke Misselwitz unterläuft den Auftrag zu einem Jubiläumsfilm, in dem sie dem offiziellen Frauenbild das Recht auf das Individuelle entgegensetzt. Der Film konnte erst ein Jahre später gezeigt werden. Die Fotografin Tina Bara unternimmt anhand ihres eigenen Archivs eine Reise durch die 1980er Jahre in Ost-Berlin, als sich viele in parallele Leben zurückzogen, um sich dem politischen Druck zu entziehen. In Radfahrer untersucht Marc Thümmler die Sprache und Interpretationen der Stasi in Bezug auf die Fotografien von Harald Hauswald.
Filmemacherin und Fotografin Elfi Mikesch dokumentiert die Hinterlassenschaften der sowjetischen Armee am Standort Wünsdorf, wo schon im I. Weltkrieg Kriegsgefangenenlager eingerichtet waren. Sichtbar wird ein Ort, an dem die Hierarchie der militärischen Rangordnung genau so deutlich wird, wie die Sehnsucht nach Kultur, für die kein Aufwand gescheut wurde.
La Jetée
La Jetée, deutscher Verleihtitel Am Rande des Rollfelds, ist ein französischer Science-Fiction-Kurzfilm. Die Handlung: Nach dem dritten Weltkrieg wohnen die Überlebenden in den unterirdischen Galerien des Palais de Chaillot im postapokalyptischen Paris. Wissenschaftler experimentieren mit der Erforschung von Zeitreisen in der Hoffnung, dass die Testpersonen den Schlüssel zur Rettung der Gegenwart finden können – ob in der Vergangenheit oder der Zukunft. Chris Marker schuf vor allem essayistische Dokumentarfilme. La Jetée ist der erste Fotofilm, der in dieser Konsequenz neben der Bewegung Zeit als das konstituierende Element des Mediums Film durchdekliniert. Zudem knüpft der Essay-Filmer Marker ein dichtes Referenzsystem, das unter anderem auch Bezug auf Konzentrationslager und Experimente des berüchtigten KZ-Arztes Mengele nimmt und zugleich im filmischen Kontext von Hitchcocks Vertigo zu lesen ist.
Frankreich, 1962, 28 Min., Englische Fassung, Regie: Chris Marker
Salut les Cubains
Wie viele Intellektuelle ihrer Zeit sympathisierte die Filmemacherin Agnès Varda mit der kubanischen Revolution. Der kleine karibische Inselstaat hatte sich aus eigenen Kräften vom amerikanischen „Casino-Kapitalismus“ befreit. 1963, drei Jahre nach der Revolution, begab sich Agnès Varda nach Kuba, um sich selbst ein Bild zu machen und kehrte mit über 1000 Negativen an den Schneidetisch zurück. In einer spielerischen Montage lässt sie die Fotos zu ChaChaCha-Musik tanzen, zeigt alltägliche Straßenszenen ebenso wie Aufmärsche, nimmt die Frauen mit ihrem erwachten Selbstbewusstsein in den Blick, dokumentiert die Zuckerrohrernte und Fidel Castro bei einem Auftritt. Zu spüren ist ihre Begeisterung, aber auch feine Ironie. Gemeinsam mit dem Schauspieler Michel Piccoli spricht sie den Kommentar, der die Bilder rhythmisch noch steigert.
1963, Frankreich, 30 Min., frz. OmeU, Regie: Agnès Varda
Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepenbrink
Die Lebensgeschichte von Gerda Siepenbrink wird über den Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhunderts erzählt, von 1915–1975. Sie hat den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Nazi-und die Nachkriegs-Zeit sowie das westdeutsche Wirtschaftswunder erlebt. Filmemacherin Jutta Brückner setzt die Biografie ihrer Mutter aus privaten Fotografien, Zeitungsausschnitten und Zitaten zusammen, die komplettiert werden durch Arbeiten des Dokumentaristen August Sander und der Fotografin Abisag Tüllmann. Freimütig erzählt die gelernte Schneiderin von den ärmlichen Verhältnissen, denen sie entstammt, die aber auch immer begleitet waren von kleinbürgerlichen Konditionierungen in Sachen Ordnung, Sauberkeit und „Das-tut-man-nicht“-Anweisungen. Nach den Jahren an der Seite ihres Ehemannes, einem Buchhalter mit SPD-Parteibuch, gelingt es ihr dann doch noch, aus der Umklammerung auszubrechen. Brückners vielgestaltige Collage entwirft über das individuelle Schicksal hinaus ein großes Panorama von deutscher Zeitgeschichte.
Deutschland, 1975, 65 Min., Regie: Jutta Brückner
35 Fotos – Bilder aus einem Familienalbum
Anhand von 35 Fotografien skizziert Helke Misselwitz das ‚ganz normale’ Leben einer jungen Frau in Ost-Berlin. Im Mittelpunkt Karin R., geboren 1949, dem Jahr der Gründung der DDR. Anlass für diesen DEFA-Kinobox-Beitrag war das 35jährige Jubiläum des Bestehens der Republik. Für jedes Jahr ein Bild: Es geht um Herkunft, Familie und vor allem ihre Ehe. Ab wann hat sie ihre Rolle darin in Frage gestellt? Die lakonische Bilanz der Portraitierten: „Man passt sich an, bis man selbst nur noch wenig ist.“ Mittels der Erzählung wird der Blick geschärft für das, was sich hinter den Bildern verbirgt. Der Film war wohl nicht feierlich genug – das Argument: „Das ist kein repräsentatives Leben für Frauen in der DDR.“ Er durfte erst ein Jahr später gezeigt werden.
DDR, 1984/85, 7 Min., Regie: Helke Misselwitz
Väntan (Das Warten)
Nach dem Zweiten Weltkrieg kaufte das Schwedische Fernsehen ein umfangreiches Berliner Fotoarchiv auf. Darunter Aufnahmen eines Bergwerksunglücks 1930 in Schlesien. Als der Sender plante, das Material zu verkaufen, entschließt sich der Dokumentarist Peter Nestler, der zu diesem Zeitpunkt in Schweden lebt, damit zu arbeiten, um auf den Wert der Fotografien hinzuweisen. Kompiliert hat er einen bedrückenden Film über katastrophale Arbeitszustände, aber auch die solidarischen Gesten und Tröstungen der Familien untereinander. Während Nestler die Bilder sachlich kommentiert, geben die Kompositionen von Arnold Schönberg und Anton Webern der Emotionalität Raum.
Schweden, 1985, 6 Min., Regie: Peter Nestler
Radfahrer
Die Bespitzelung des Fotografen Harald Hauswald wurde 1983 durch die Staatssicherheit eingeleitet. Der Deckname für den operativen Vorgang lautete „Radfahrer“. Dahinter stecken Hauswalds unermüdliche Streifzüge durch Ost-Berlin, wo er die Rückseite der sozialistischen Fassade aufspürte und dokumentierte. Zu seinen Sujets gehören die maroden Straßenzüge mit ihrer Hinterhof-Tristesse, die vom Alltag und der Arbeit abgekämpften Gesichter, Paraden, gesehen vom Rand, da wo sie sich bereits auflösen. Er, ein Meister der Straßen-Fotografie, ein sensibler Beobachter, der intensiv beobachtet wird. In den Stasi-Unterlagen finden sich zahlreiche Interpretationsversuche der inkriminierten Fotos: teils bizarr in ihrer Auslegung, teils durchaus „kennerisch“. Diese „Bildbeschreibungen“ konfrontiert Regisseur Marc Thümmler mit den betreffenden Fotos. Ideologie trifft auf Realität, wie sie im Arbeiter- und Bauernstaat nicht vorgesehen war.
Deutschland, 2008, 27 Min., Regie: Marc Thümmler
Lange Weile
Aus über 400 Schwarz-Weiß-Fotografien, die in den Jahren 1983 – 1989 in der Spätphase der DDR entstanden, montiert die Film- und Fotokünstlerin Tina Bara eine Erzählung über Freundschaft und Verlust, Momentaufnahme und Wiederbegegnung. Im Voice-Over reflektiert sie den Prozess des sich Erinnerns und ihre künstlerische Entwicklung. Vom Porträt ausgehend bewegt sie sich immer dichter an Details heran. Die Körper auf ihren Bildern sind fragmentiert und ineinander verkeilt, im Text benennt sie unerbittlich die Konsequenzen: Depressionen, Selbstmorde, Ausreisen. Aufgewachsen ist Tina Bara in Guben, einer Stadt, die, durch den Fluss Neiße geteilt, auf ostdeutschem und polnischem Boden liegt. Der Riss, die Verwundung, die Narbe werden Motive, die ihre Fotografien fortan prägen.
Der Film kennt auch die kleinen Fluchten: illegale Reisen ins Baltikum oder die unbeschwerten Landpartien in die Uckermark. Stillstand und Bewegung paaren sich zu ungeheurer Intensität, die das Schöne und zugleich Verzweifelte jener Tage dokumentieren.
Deutschland, 2017, 60 Min., Regie: Tina Bara
Wünsdorf
In Wünsdorf, bei Zossen im Süden von Berlin, versteckt im Wald, gibt es eine ehemalige Militärstadt mit wechselvoller Geschichte: Im Ersten Weltkrieg wurde das Gelände als Kriegsgefangenenlager genutzt. Das Straßenschild Moscheestraße zeugt noch von den Internierten aus den französischen Kolonien, für die man die erste Moschee in Deutschland erbaute. Die Nationalsozialisten richteten in Wünsdorf die Heeresstelle des Oberkommandos ein, um hier mörderische Waffensysteme zu erfinden und den II. Weltkrieg zu planen.
Danach: Standort der Roten Armee. In Wünsdorf lebten bis zu 75.000 Militärangehörige, z.T. mit ihren Familien. Filmemacherin und Fotografin Elfi Mikesch dokumentiert die Sedimente früherer Anwesenheit. Zu den Hinterlassenschaften der Sowjetarmee gehören Parolen an den Wänden ebenso wie versteckte Kritzeleien, die von der Sehnsucht junger Soldaten nach Heimkehr künden. Graffitis aus der Jetztzeit zeugen davon, dass Zeit nicht stillsteht. Sichtbar wird ein Ort, an dem sich die Hierarchie der militärischen Rangordnung in der Architektur widerspiegelt, jedoch auch die Liebe zur Kultur und Vision einer glorreichen Zukunft, für die die Sowjets keinen Aufwand gescheut haben.
„Es gab den militärischen Alltag, aber auch eine Realität, die es nicht zu verschweigen gilt. Gewalt durch Eintönigkeit, Mangel und Härte. Krieg ist nicht heilbar. ‚Jährlich sind bis zu 4.000 Sowjetsoldaten ums Leben gekommen – durch Unfälle, Gewaltexzesse und Selbsttötungen.‘* Das Gedenken daran erahnt der Film durch die Musik von Andrea Sodomka im ersten und dritten Rundgang. Es ist die endlose Schleife und das Echo, das sich in den Gebäuden, den Gegenständen, Pflasterwegen und sogar durch Bäume und Pflanzen manifestiert – Meditation in Violence.
‚Es gibt die Last von 2,7 Millionen Tonnen militärische Hinterlassenschaft.‘ Im 3. Rundgang, in der Musik von Harald Weiss eindringlich zu hören: The Rest Is Silence – in den Rufen und den Stimmen der Kinder: ‚Ich habe dich was gefragt…‘. Thomas Beckmann spielt Cello ist ein Credo. Ein Gedanke. Das was bleibt.“
(Elfi Mikesch)
Der Fotofilm ist eine Vorarbeit für das Dokumentarfilmprojekt „Wünsdorf findet Stadt“. Deutschland, 2020, 32 Min., Realisation Elfi Mikesch, zusammen mit Lilly Grote
*Zitate aus: Ilko-Sascha Kowalczuk, Stefan Wolle, Roter Stern über Deutschland. Ch. Links Verlag, Berlin 2010.
EMOP Opening Days
1.10., 12 – 0 Uhr: Ausstellungeröffnung
2.10., 17 Uhr: Die Zukunft der Fotografie-Ausbildung (Diskussion)
2.10., 20 Uhr: Die Fotografie und die Institutionen (Diskussion)
3.10., 14 Uhr: Fotografie zwischen Kunst und Massenmedium (Diskussion)
3.10., 19 Uhr: Von künstlerischen und menschenrechtlichen Interventionen (Diskussion)
4.10., 12 Uhr: Das Jahr 1990. Die neue (und die alte) Zeit festhalten (Diskussion)