Mit Beiträgen von:
Peter Chametzky (Columbia/South Carolina):
Die Montage leben und sterben und ihr widerstehen
Sabine Kriebel (Cork):
Der lange Atem der Fotomontage
Margarita Tupitsyn (New York/Paris):
Politische Fotomontage. „Eine weltweite Errungenschaft“
Damarice Amao (Paris):
tba
Volker Pantenburg (Berlin):
Now! Heartfield/Álvarez
Azadeh Akhlaghi (Teheran/Melbourne):
Re-enactment als Arbeitsprozess
Künstlergespräch mit: Christian Marclay (London)
Moderation und Fragen: Ute Eskildsen und Angela Lammert
Fragen an Peter Chametzky
Sie gehen wie Sabine Kriebel von einer Fortsetzung des politisch-kritischen Impulses von Heartfield aus. In Ihren Beitrag zur historischen Situation haben sie ein kürzlich erschienenes Titelblatt der New York Times eingefügt. Einmontiert in diesen Titel – eine Aufzählung der Corona-Toten in den USA – ist eine Farbfotografie des Golf spielenden US-Präsidenten Donald Trump, der die Namen der Toten schwungvoll mit dem Schläger wegzuwischen scheint. Worin sehen Sie den Unterschied in Arbeitsprozess und Gebrauch heutiger Fotomontagen zum politisch-kritischen Impuls Heartfields?
Das auf die Titelseite der New York Times vom 24. Mai 2020 montierte Bild von Trump verbreitete sich schnell in den sozialen Medien. Es ist ein Beispiel für die heutigen „urheberlosen“ Montagebilder: Jemand schuf es in der Hitze des Gefechts und stellte es als allgemein zugängliche Munition zur Verfügung. Ich frage mich nun, wie viele der Leserinnen und Leser der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) oder derjenigen, die vielleicht einfach in einem Zeitungskiosk oder einem Café eine Heartfield-Montage auf den Seiten der Zeitung sahen, das Bild am Tisch oder auf der Straße herumgezeigt haben könnten ‒ nicht als „Kunst“, sondern als eine Waffe ohne Urheber? Oder vielleicht einem Freund oder einer Freundin ein Exemplar geschenkt haben? Mir gefällt die Interpretation des Trumpbildes in Ihrer Frage, dass er versucht, mit dieser Geste etwas wegzuwischen; daran hatte ich nicht gedacht. Ich glaube, das zeugt von der Vielfalt der Lesarten, die die Montage möglich macht. In meiner Lesart bringt das über diese Namen gelegte Bild, das ihn beim Golfspielen zeigt – was er übrigens dieses Wochenende auch wieder gemacht hat –, seinen Wunsch zum Ausdruck, diese menschliche Krise zu ignorieren und stattdessen seine eigenen egoistischen, persönlichen und politischen Bedürfnisse zu befriedigen, sich zu erholen, während die Zahl der Toten aufgrund seiner Lügen, Inkompetenz, Gleichgültigkeit und Berechnung immer weiter steigt.
Wie können wir heute die Differenz von politisch intentionalem, künstlerischem Werk und aktuellen Anwendungen von Montagetechniken beschreiben? Mit welchem Ziel verwenden Sie in diesem Zusammenhang den Begriff „Wir leben Montage“ von Jodi Dean?
Ich glaube, dass jedes Kunstwerk implizit oder explizit eine politische Dimension hat. Momentan haben wir eine Situation, in der die explizite Dimension unbedingt geboten ist und Montage wieder in den Vordergrund tritt. Aber ich meine, dass Werke, die einige in Heartfields Zeit als „bürgerlichen Formalismus“ verurteilt hätten – einen Mondrian etwa, – ebenfalls politische Implikationen haben. Wie sollen wir denn, ohne eine geschärfte formale Perspektive, die Welt um uns herum bewerten und beurteilen, die ja immer stärker von schnell changierendem, clever zusammengestelltem Bildmaterial definiert wird? In gewisser Hinsicht sagt Dean, dass die Technologie uns allen heute erlaubt, unsere eigenen Bilder zu kreieren, zu verbreiten und Wirklichkeiten zu schaffen, die unsere Weltsicht widerspiegeln. Und wir sind gezwungen, die von anderen geschaffenen Wirklichkeiten zu konsumieren, können uns diese aber auch aneignen und sie verändern. Indem wir selbst „die Montage leben“, erkennen wir die Künstlichkeit leichter. Während ich den Studierenden beizubringen habe, wie man Werke der modernen Kunst kritisch analysiert, bringen sie, die ja selbst schöpferisch tätig sind, mir viel über die heutigen Strategien der Montage bei. Im Moment kann man sehr gut die unterschiedlichen Wirklichkeiten erkennen, die in den Montagebildern erzeugt werden, welche die (nicht miteinander verlinkten!) Biden- und Trump-Kampagnen streamen. Dazu muss man sich nur ansehen, wie die Komödiantin Sarah Cooper auf TikTok Trumps lächerliche, gemeingefährliche Sprüche mit den Lippen nachbildet und so für ein millionenstarkes Publikum Heartfields Strategie in Hurrah, die Butter ist alle! zum Leben erweckt, die Worte von Politikern gegen sie selbst zu wenden. Im Geiste Heartfields ist auch das Lincoln Project eines republikanischen Anti-Trump-Werbespots, das den mächtigen republikanischen Senator Lindsey Graham (aus dem großartigen Staat South Carolina!) zu Wort kommen lässt. Als er sich um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner bewarb, war er ein erklärter Gegner Trumps, aber jetzt ist er zu einem opportunistischen Unterstützer Trumps mutiert. Und der Spot präsentiert Grahams nur allzu wahre frühere Kritik an Trump sowie sein großes Lob für Biden. Auch wenn Heartfield selbst heute nicht mehr unter uns ist, lebt sein Erbe doch weiter.
In Ihrem kurzen Videostatement nehmen Sie – prägnant und in Heartfield’scher Zuspitzungsmanier – unter dem Eindruck der „Black Lives Matter“-Proteste die symbolische Geste der Faust auf, die Heartfield in seinen Montagen verwendet. Glauben Sie, dass diese einfachen Symbole heute noch dieselbe Wirkkraft entfalten können wie zu Heartfields Zeiten?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich kenne Heartfields Bild, seit ich etwa elf Jahre alt war, also so um 1970. Damals waren wir alle mit dem Gruß der Black-Power-Bewegung vertraut. Mein Bruder und ich wunderten uns, warum die Daumen in Ob schwarz ob weiss neben dem Zeigefinger und nicht über den zu einer Boxerfaust geballten Fingern platziert waren. Man erklärte mir, dies sei ein Bild, in dem es um Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse gehe. Es stamme aus der kommunistischen Bewegung und sei vom Fall der Scottsboro Boys inspiriert, und diese Faust sei nicht zum Schlagen geballt, sondern zum Hämmern, zum Bauen. Deshalb habe ich in meinem kleinen Video beide Gesten vollführt. Während das Bild der Solidarität zwischen Schwarz und Weiß klar ist, glaube ich, dass die Geste des Hämmerns heute wie schon 1970 einer Erklärung bedarf. Und indem ich beide Varianten zeigte, wollte ich sowohl das Thema militanter Aktion gegen real existierende Unterdrückung als auch das einer konstruktiven, gemeinsamen Arbeit für den Aufbau einer besseren Zukunft aufrufen.
Was ist Ihre Lieblingsarbeit von Heartfield und was war eine Überraschung bei dem Beitrag von Sabine Kriebel oder eine Entdeckung im Katalog?
Eine Entscheidung fällt hier schwer. Die absurde Unverfrorenheit kombiniert mit dem alltäglichen Bild des aufgeblähten „Jedermann“ in Jedermann sein eigner Fussball bringt mich noch immer zum Lachen. Hurrah, die Butter ist alle! zieht noch immer, indem es die Worte des fetten Hermann Göring in brillanter Weise gegen seine Ideen wendet. In Louis Kaplans Wortwitz (danke an Sabine Kriebel für den Hinweis) hat diese Nazifamilie keine Bedenken, Görings Worte buchstäblich zu „schlucken“, was sie mit Sicherheit krank machen, wenn nicht sogar umbringen wird. Doch das, was Sabine Kriebel verdeutlicht, ist die affektive Kraft so vieler Werke Heartfields, die eine Naht bilden. Obwohl er ideologisch Partei ergreift, vermag er das Unheimliche, ja sogar das Unbewusste anzusprechen. Daher verwundert es nicht, dass Louis Aragon, der vom Surrealismus und von Sigmund Freud, aber auch von Karl Marx durchdrungen war, von „revolutionärer Schönheit“ sprach. Als Erklärung für eine derartige Nahtbildung und erschütternde Schönheit muss ich auf meine Kindheit und die Arbeit meiner Mutter zurückkommen, die, als ich in einem Alter war, in dem man leicht zu beeinflussen ist, [Tucholskys] Deutschland, Deutschland über alles! für die 1972 erschienene Ausgabe der University of Massachusetts Press übersetzte (Abb. 1-2; Erstausgabe, signiert von Leonard und Lisa Baskin, und die englische Ausgabe 1972, übersetzt von Anne Halley). Das Titelbild des preußischen Automaten im Zylinder, der diese Worte ausspuckt, jagte mir Angst ein. Und wenn ich es heute auch nur flüchtig sehe, tut es das immer noch. Ich wusste damals nicht, was das war und warum es das tat. Aber ich spürte, dass es irgendetwas damit zu tun haben musste, dass mein Großvater, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, und seine Familie aus Nazideutschland fliehen mussten. Obwohl er und meine Großmutter, als das Buch 1929 veröffentlicht wurde, glücklich als Arzt beziehungsweise Ärztin in Bremerhaven tätig waren, schien und scheint es mir etwas damit zu tun zu haben, warum ich existiere und viele andere nicht.
Peter Chametzky ist Professor für Kunstgeschichte an der University of South Carolina. Er ist Autor von Objects as History in German Twentieth-Century Art (2010), das zwei Kapitel über die Berliner Dada-Bewegung enthält, sowie einer multikulturellen Studie über Kunst in Deutschland der Gegenwart und ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Politik: Turks, Jews, and Other Germans in Contemporary Art (in Vorbereitung).
Zurück zum Seitenanfang
Fragen an Sabine Kriebel
Ihr Heartfield-Buch trägt den Titel „Revolutionary Beauty“ – der von Luis Aragon übernommene treffende Ausdruck stand schon 1935 für die Verschmelzung von sozialer und poetischer Auflehnung. Gibt es diese revolutionäre Schönheit auch in der medialen Gegenwartskunst?
Mediale Gegenwartskunst ist ein sehr breiter Begriff, der alle möglichen beeindruckenden Projekte umfasst. Natürlich existiert revolutionäre Schönheit, sprich gibt es Kunstformen, die gegensätzliche Strukturen in einer spannungsgeladenen Schwebe halten, denn es ist genau diese Spannung zwischen Ästhetik und Politik, Form und Reibung, die dafür sorgt, dass die Kunst dynamisch bleibt.
Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem alltäglichen Gebrauch von Montageformen in Werbung und Social-Media-Formaten und den Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern? Ist das kritische Potenzial mit den neuen technischen Möglichkeiten noch nicht voll entwickelt und kann sich überhaupt eine Gegenkultur in der Abhängigkeit von Großkonzernen und einer zentralen Datenverarbeitung bilden? Wie hat sich der Stellenwert des dokumentarischen Fotos verändert?
Sicherlich gibt es Überschneidungen zwischen und innerhalb der Felder Werbung, Social Media und Kunst, sodass sich das kaum verallgemeinern lässt. Vielleicht kann man es so sagen: In der Werbung dient die Montage dem Ziel, ein Produkt zu vermarkten, eine Social-Media-Montage versucht, eine Basis von „Followern“, die einer bestimmten Person auf der Grundlage einer angenommenen Identität folgen, in Verbindung zu bringen, und Künstlerinnen und Künstlern geht es vielleicht eher um das Kommunikationsmittel ‒ das Medium ‒ und darum, wie es ihren Inhalt am besten zum Ausdruck bringt, sprich, da herrscht ein stärkerer Reflexionsgrad vor über die Schnittstellen zwischen dem Medium und der Botschaft. Aber es gibt auch Künstlerinnen, die als Werbedesignerinnen arbeiten, die Social-Media-Sites haben…
Kann man sagen, dass dieses kritische Potenzial trotz der immensen technischen Möglichkeiten noch nicht voll entwickelt ist?
Unbedingt.
Und kann sich eine Gegenkultur überhaupt entfalten bei all der Abhängigkeit von großen Unternehmen und einer zentralisierten Datenverarbeitung?
Natürlich. Die Gegenkultur ist nicht von Großunternehmen abhängig, und sie war immer gut darin, Machtsysteme zu unterwandern, ja sogar ihnen die eigenen Bedingungen unterzujubeln, um sie von innen her zu destabilisieren.
Inwiefern hat sich der Status der Dokumentarfotografie verändert?
Er hat sich verändert und dann wieder auch nicht. Fotografien wurden schon immer manipuliert. In der Geschichte der Fotografie gibt es viele solche Beispiele. Heute ist das dank der sozialen Medien viel bequemer, und man kann schneller eine Wirkung erzielen, doch die Fotografie als „Dokument“ war schon immer eine besondere diskursive Kategorie und keine Ontologie.
Sie beschreiben die Veränderung der historischen Montagetechnik bis hin zu „unsichtbaren virtuellen Geschwülsten“. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Heartfield sich nie mit der expandierenden Reklamebranche beschäftigt hat?
Heartfield war bahnbrechend für das Werbedesign und wurde von der Mainstream-Werbekultur gefeiert, doch seit der Radikalisierung der Politik 1928/29 lag der Schwerpunkt seines Engagements tatsächlich anderswo.
Was ist Ihre Lieblingsarbeit von Heartfield?
Das ändert sich ständig, weil ich immer wieder von Heartfield lerne, aber ich komme, glaube ich, wegen der Komplexität ihrer visuellen Verfahren immer wieder Vorwärts ‒ Ich bin ein Kohlkopf, kennt ihr meine Blätter (1930) oder den knurrenden kapitalistischen Tiger in Zum Krisenparteitag der SPD (1931) zurück. In beiden Montagen geschieht ‒ visuell, psychologisch, kulturell ‒ eine ganze Menge, und zugleich sind sie so eindrucksvoll einfach und nach wie vor extrem relevant.
Was hat Sie bei der Arbeit an Ihrem Beitrag zum Katalog überrascht?
Ich interessiere mich nach wie vor für die Rezeption Heartfields, in synchroner wie diachroner Hinsicht. In meinem Buch habe ich unter anderem versucht, das avisierte Publikum von Heartfields zu ihrer Entstehungszeit Bildern zu verstehen, doch natürlich ziehen diese Montagen weiterhin Betrachterinnen und Betrachter an, die ihr Produzent nicht antizipiert hatte ‒ oder Hüter seines Vermächtnisses. Jeff Wall war 1971 sicherlich einer von ihnen. In vielerlei Hinsicht erweitern Walls fotografische Tableaus die Prämissen von Heartfields Projekt, indem sie sozialkritische Montagen mit Schauspielerinnen oder Akteuren und Requisiten inszenieren und dabei die illuminierten Leuchtkästen der Werbeindustrie benutzen. Wieland Herzfeldes frostiger Empfang des interessanten, aber ideologisch zweifelhaften langhaarigen Mannes ist enttäuschend, zeugt aber auch von den engen Grenzen der Heartfield-Rezeption an bestimmten Punkten der Geschichte. Die Reibung zwischen den Welten, die in Walls Narrativ zum Ausdruck kommt, ist etwas, das mir bleibt, auch wenn ich weiß, dass die Geschichte sich letztlich auf Walls Seite geschlagen hat. Die Ausstellung 2019 in der Berlinischen Galerie offenbarte das überraschende Ausmaß von Heartfields internationaler Resonanz, so wie dies vermutlich auch bei dieser Version 2020 in der Akademie der Künste der Fall sein wird.
Sabine Kriebel ist Kunsthistorikerin und hat zahlreiche Texte zur Fotografie, zur Fotomontage und zur Moderne in Deutschland veröffentlicht. Sie hat an der bahnbrechenden Ausstellung „Dada“ (2005) mitgearbeitet, einen Band über Heartfields Montagen in der AIZ verfasst und schreibt derzeit ein Buch über die Neue Sachlichkeit. Geboren und aufgewachsen in den USA lehrt die am University College Cork, Irland.
Zurück zum Seitenanfang
Fragen an Margarita Tupitsyn
Die russische Konstruktivistin Valentina Kulagina, Ehefrau von Gustav Klutsis, schreibt über Heartfield während seines Russlandbesuchs, er würde „seine Genossen so behandel[n] wie ein Eroberer seine Kolonien“. Beschreiben diese Bemerkungen ihre Rolle als Künstlerin innerhalb der Männerkameraderie von Arkadi Schaichet, Max Alpert und Klutsis – dem „Reisekollektiv“ des deutschen Fotomonteurs – oder stehen sie für die Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Verfahren der Fotomontage innerhalb der Sowjetunion?
Historisch gesehen wurde den Vertreterinnen und Vertretern der russischen Moderne von der aus- wie inländischen Kritik immer wieder vorgehalten, sie würden den Westen nachahmen. Daher waren avantgardistische Kreise in der nachrevolutionären Zeit vor allem damit beschäftigt, eine unabhängige künstlerische Identität zu entwickeln und neue künstlerische Formen zu erfinden, die „man im Westen noch nicht gesehen hatte“ (1). Die ungegenständliche Malerei der 1920er Jahre war einer dieser originellen Stile, bei der sich die sowjetische Fotomontage bediente und die einen direkten Einfluss auf die Entwicklung kompositorischer und formaler Regeln in den Anfängen dieser Kunst ausübte. So benutzte etwa Gustav Klutsis, ein Student Malewitschs, für seine Fotocollage Dynamische Stadt (1919) seine frühere nicht-gegenständliche Komposition gleichen Titels und fügte ihr Architekturelemente und vier Figuren von Bauarbeitern hinzu. In den frühen 1920er Jahren studierte Valentina Kulagina bei den Ungegenständlichen Nathan Pewsner, Ljubow Popowa und Alexander Wesnin an der [staatlichen Kunsthochschule] WChUTEMAS und stützte sich bei ihren späteren Fotomontage-Entwürfen immer auf ihre experimentellen Vorzeichnungen. Die zweite Kunstform, die Russland als eigene Erfindung reklamierte, war die politische Fotomontage, die „unabhängig auf sowjetischem Boden entwickelt wurde“ und, so Klutsis weiter „entscheidenden Einfluss auf die kommunistische Presse in Deutschland ausübte (Heartfield und Tschichold) (2). Aus Kulaginas Sicht bedeutete Heartfields Entscheidung, auf russischem Boden allein auszustellen, eine Rückkehr zum Narrativ des künstlerischen Vorsprungs des Westens, um dessen Überwindung es ihr und ihrem Umfeld ging. Außerdem spielte dieses Abgrenzungsverhalten die Vorreiterrolle Russlands bei der Entwicklung dieses Mediums herunter und verletzte seine kollektive Prämisse. All dies zusammengenommen war der Grund für Kulaginas ablehnende Haltung.
Was die Rolle von Künstlerinnen betraf,so waren Frauen – im Gegensatz zu den Kreisen der Ungegenständlichen – im Bereich der Fotografie und Fotomontage rar gesät. Valentina Kulagina beschwerte sich mehr als einmal über die chauvinistischen Attitüden ihrer männlichen Kollegen und sexuelle Avancen seitens mächtiger Bürokraten. In ihrem Tagebuch schildert sie, wie Gustav Klutsis ihr beibringt, eine richtige Fotomontage zu machen, und berichtet von sexueller Belästigung bei beruflichen Zusammenkünften. So schreibt sie: „Es war seltsam, als er [B. F. Malkin] einmal im Mossowjet[-Theater] während einer Diskussion darüber, wie man die Banner aus den Fenstern herablässt, aufstand und mich küsste. … Wie kann ‚er‘, der Vorsitzende des Izogiz, ein überzeugter Kommunist und Mann in einer derart verantwortungsvollen Position, ‚solch‘ eine Beziehung zu einer Angestellten haben?“
Sie zitieren in Ihrem Text den Kampf der russischen Fotomontage um Gustav Klutsis gegen die zahlreichen Epigonen und Scharlatane, die die Montagetechnik als Methode vulgarisierten. Wann gab es Anknüpfungspunkte an die Monteure der 1920er und 30er Jahre und in welchem Verhältnis stehen diese zur künstlerischen Weiterentwicklung von Heartfields politisch-kritischem Impuls?
Nach dem Tod Lenins 1924 und während des ersten Fünf-Jahres-Plans (1928–1933) benötigten die Bolschewiken eine visuell wirksame Form öffentlicher Motive, die ihre Botschaft verkünden sollten. Viele Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich an deren Entwicklung, da sie der Arbeiterklasse zugutekam und ihre formalen Entscheidungen nicht beeinträchtigte. Diese für beide Seiten idealen Arbeitsbedingungen trieben die politische Fotomontage bis in die frühen 1930er voran, als der Erlass, Stalin und Mitglieder des Politbüros in die Werke einzubeziehen, die Zensur ins Leben rief, die darauf achtete, welche Bilder ausgeschnitten und aufgeklebt wurden und wie dies geschah. In diesem Klima dräuender autoritärer Regime veranschaulichten Heartfields Retrospektive und die zur gleichen Zeit veranstalteten Gruppenausstellungen mit lokalen Collagen die große Bandbreite experimenteller Kreativität, die der Vision einer Utopie der Arbeiterklasse gewidmet war.
(1) To ‘Original’ Critics and the Newspaper Ponedelnik, in: Anarchy 85 (15.6.1918)
(2) Gustav Klutsis, The Photomontage as a New Kind of Agitation Art, in: Anarchy 85 (15.6.1918), S. 237
Margarita Tupitsyn ist unabhängige Wissenschaftlerin, Kunstkritikerin und Kuratorin. Sie hat zahlreiche Bücher, Kataloge und Artikel über die russische Avantgarde und zeitgenössische Kunst verfasst. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen Moscow Vanguard Art, 1922–92 (2017) und Russian Dada, 1914–1924 (2018).
Zurück zum Seitenanfang
Fragen an Volker Pantenburg
Azadeh Akhlaghi und Santiago Álvarez nutzen nicht nur das Montageprinzip im Film, sondern sie agieren auch aus einem anderen kulturellen Umfeld. Sehen Sie damit verbundene Unterschiede etwa zur filmischen Montagetechnik von Sergej Eisenstein oder Jean-Luc Godard?
Der kulturelle und historische Kontext, aus dem sich die Montagen visuell speisen und in den sie zurückwirken, ist ganz entscheidend. Für Eisenstein sind die Positionen noch klar verteilt, der Feind ist die Bourgeoisie, der Held das Proletariat; beide Gruppierungen können in der Montage (wie im Klassenkampf) konfliktreich kollidieren und dann zur sozialistischen Synthese geführt werden. In den 1960er Jahren sind die Verhältnisse weniger klar. Die popkulturellen Überschüsse des Bildes (in TV, Zeitschriften, Werbung) sind enorm, die Gesten der Kritik, Affirmation oder Subversion kompliziert ineinander verwoben. Das heißt auch, dass die Kontrolle über die Bildwirkungen (an die Eisenstein zumindest zu Anfang noch glaubte), zunehmend verloren geht. Die Eigengesetzlichkeit der Bilder wird spürbarer, ihre Instrumentalisierung problematischer.
Ist die Fotomontage noch relevant oder liegt in den 1960er Jahren ein Bruch – die meisten Beispiele der künstlerischen Anknüpfung und Auseinandersetzung mit Heartfield werden bis in die 1960er Jahre angeführt?
Ich sehe auch heute immer wieder gelungene Bildfindungen. Es ist zwar keine Fotomontage im engeren Sinne, aber die Rückenansicht von Trump, in der er statt des notorischen Golfschlägers eine Sichel schwingt, dazu die Titelseite der New York Times mit den Namen von annähernd 100.000 Covid 19-Toten: (1) Eine solche Verknüpfung steht für mich in Heartfields Tradition. Zugleich denke ich, dass man den Montagebegriff im Zeitalter von TikTok und Twitter weiter fassen muss und insbesondere die Verbindungen von Bild und Ton miteinbeziehen sollte. Sarah Coopers kleine Reenactment-Miniaturen, in denen sie O-Töne Trumps lippensynchron re-inszeniert, sind in dieser Hinsicht absolut schlagend. (2)
Sie zitieren den Satz von Álvarez: „My style is the style of hatred for imperialism“, den Heartfield hätte auch unterschreiben können. Unterscheiden sich der Arbeitsprozess und das Produkt, wenn es nicht für diesen kritischen Impuls, sondern für die Propaganda rechten Gedankenguts eingesetzt wird?
Der Arbeitsprozess und einzelne Montage-Verfahren mögen sich ähneln, aber die Absicht bleibt diametral entgegengesetzt: Im Fall von Heartfield und politischer Kunst in seiner Nachfolge zielt die Agitation auf Emanzipation, Solidarität und Gemeinschaft ab, im Falle rechter Propaganda auf Ressentiment, Spaltung und menschenfeindliche Abschottung.
(1) Vgl. www.twitter.com/vrjrdgstknng/status/1264350689540608000, zuletzt am 13.7.2020
(2) www.youtube.com/watch?v=SUTYsl9TTvA, zuletzt am 13.7.2020
Volker Pantenburg ist Professor für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er forscht, lehrt und schreibt unter anderem zu essayistischen Praktiken sowie Arbeiten im Schnittfeld von Kino und Museum. Aktuelle Publikationen: Harun Farocki: Ich habe genug! Texte 1976–1985 (2019, Hg.), Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch (2019, Hg.), Handbuch Filmanalyse (2020, Mitherausgeber). 2015 gründete er gemeinsam mit anderen das Harun Farocki Institut, in dessen Vorstand er tätig ist.
Zurück zum Seitenanfang
Azadeh Akhlaghi lebt als Künstlerin in Teheran und Melbourne. Sie war an zahlreichen Kunstausstellungen und Biennalen an verschiedenen Institutionen beteiligt, darunter das Museum of Contemporary Photography, Chicago, Paris Photo, die Shanghai und die Seoul Biennale und das Tehran Museum of Contemporary Art. 2019 wurde sie zum Robert Gardner Fellow in Photography im Peabody Museum der Harvard University ernannt.
Zurück zum Seitenanfang