Herzfelde, Wieland, Szenenbild der Inszenierung Bertolt Brechts von Maxim Gorki, Die Mutter, mit den Hintergrundprojektionen der vier Kriegsherren Georges Clemenceau, Kaiser Wilhelm II., Zar Nikolaus II. und David Lloyd George, Berliner Ensemble, 1951 © The Heartfield Community of Heirs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

„Vererben der Wut“ Oder John Heartfield erfindet das epische Theater Rückblick und Nachwirkungen

Filme und Gespräche

Ein essayistisches Online-Projekt der Sektion Darstellende Kunst mit den Mitgliedern Bibiana Beglau, Schauspielerin, Christian Grashof, Schauspieler, Klaus Völker, Theaterhistoriker und den Gästen Aleksandar Denić, Bühnenbildner, Thomas Irmer, Theaterwissenschaftler, Autor.

„Die Dekorationen sprechen”

Zeitgleich mit der Ablösung der europäischen Kunst von der Gegenständlichkeit und den Theaterexperimenten der russischen und frühsowjetischen Avantgarde emanzipiert sich, unter dem Einfluss unterschiedlicher künstlerischer und gesellschaftspolitischer Bewegungen in ganz Europa, das Bühnenbild vom Dekor.

Der Raum wird zum autonomen künstlerischen Element und bleibt es – dabei immer wieder Impuls der Neubefragung und oft auch Triebkraft der Umbrüche des Theaters – bis heute.

Auf Erwin Piscators politischer Bühne der 1920er und 1930er Jahre werden Montage und Projektion zum künstlerischen Ausdruck einer neuen Weltsicht nach dem Krieg und eines Theaters, das sich die Gegenwart zum Thema nimmt –  mit allen avancierten Mitteln, die Künstler wie John Heartfield, George Grosz, Lászlo Moholy Nagy und andere einbringen.

John Heartfield und die Projektion im Theater

In einer Rezension zu Piscators Inszenierung von Ernst Tollers Hoppla, wir leben! (1927) heißt es, dass der Film die Hauptsache war, das „Aufpeitschende“, die absolut notwendige Ergänzung zur Drehbühne. Heartfield war als Bühnenausstatter für die Projektionen von fotografischen Details auf die mehrstöckige Bühnenkonstruktion von Traugott Müller verantwortlich. Dabei konnte er auf erste Erfahrungen von Dada-Veranstaltungen und seine Theaterarbeiten bei den Berliner Bühnen von Max Reinhardt und für das Proletarische Theater, wo 1920 mit Karl A. Wittfogels Der Krüppel und Lajos Bartas Rußlands Tag die Zusammenarbeit mit Piscator begann, zurückgreifen.

1925 wirkt Heartfield an Piscators Revue Trotz alledem im Großen Schauspielhaus zum Parteitag der KPD mit und arbeitet zwischen 1927 und 1931 nachweislich an vier Inszenierungen mit Piscator an den Piscatorbühnen am Nollendorfplatz (Eröffnung mit Hoppla, wir leben!, 1927, Jaroslav Hašek Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, 1928, Walter Mehring Der Kaufmann von Berlin, 1929, Friedrich Wolf Tai Yang erwacht, 1931).

Dabei setzen sich die Bühnendekorationen in den Zuschauerraum fort, projizierte Fotografien und Zeichnungen erobern die Bühne und in Dokumentarfilmen wird die Montage ins Dreidimensionale erweitert. Piscator nannte Heartfield den Begründer des epischen Theaters. Oft arbeitete er mit George Grosz zusammen. Dafür haben die befreundeten Künstler ihre Erfahrungen mit der Technik des Trickfilms eingebracht, die sie während des Ersten Weltkrieges über die Vermittlung von Harry Graf Kessler für das Kriegspropagandaministerium sammelten. Für Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk greift der Regisseur 1928 auf Heartfields Trickfilmprinzip ausgeschnittener kartonierter Zeichnungen zurück und kombiniert es mit Schauspielern auf der Drehbühne und Filmprojektionen. Heartfields Mitarbeit erstreckt sich auch auf die Gestaltung der Programmhefte, in denen wiederum für die Bücher des Malik-Verlages und Heartfields Buchumschläge Werbung gemacht wird.

Der Nationalsozialismus beendet ein einzigartiges Kapitel des politischen Engagements der künstlerischen Avantgarde in Deutschland.

Zurück aus dem Londoner Exil nimmt Heartfield in Zusammenarbeit mit Brecht Methoden seiner Bühnenarbeit wieder auf. Mit dem großen internationalen Erfolg des Berliner Ensembles werden die Prinzipien des epischen Theaters zu einem der bedeutendsten künstlerischen Einflüsse im europäischen Nachkriegstheater.

Fragen Sie mehr über Piscator

Klaus Völker und Thomas Irmer im Gespräch über Piscator, das Politische Theater, Heartfields Ideen zur künstlerischen Corporate Identity und die Freundschaft mit Brecht:

 

Der gefährlichen Schlichtheit trotzen

Christian Grashof im Interview mit Thomas Irmer über Theaterspielen als Haltung und Spuren zu Brecht und Heartfield in Alexander Langs „Der entfesselte Wotan“ von Ernst Toller am DT 1979:

Hier geht es zum vollständigen Interview

Horst Hiemer (l.), Christian Grashof. aus der Serie von Szenenfotos der Aufführung: Ernst Toller, Der entfesselte Wotan, Regie: Alexander Lang, Deutsches Theater, 1979. Signatur des Archivs der Akademie der Künste: Fotosammlung-Theater 2956. Foto: Eva Kemlein © Stiftung Stadtmuseum Berlin.

Vererben der Wut …”

Piscators Arbeit mit Heartfield ist heute nur noch eingeweihten Theaterkennern ein Begriff. Wenn in zeitgenössischen Theaterproduktionen mediale und andere Elemente der Montage auf der Bühne eingesetzt werden, sind einem breiteren Publikum diese Wurzeln oft nicht mehr bewusst.

Anders die Akteure selbst. Hat, um zwei exemplarische Bildkünstler zu nennen, Bert Neumann Piscators ehemalige Volksbühne als eine des – im weiten Sinne als Raum der Freiheit verstandenen – Politischen Theaters der Gegenwart neu inszeniert, so ist Aleksandar Denić, sein Nachfolger in der kongenialen Partnerschaft mit Frank Castorf, ein Heartfield nahestehender Meister der assoziativen Schichtung und intellektuell verdichtenden Konfrontation von Bildzitaten.

John Heartfield’s Flying Circus or How I was infected

Wie Aleksandar Denić im Jugoslawien der 1980er John Heartfield bei Monty Python begegnete, und was seine Bühnenassemblagen mit Heartfields Kunst verbindet:

 

In Denićs Welt

Bibiana Beglau spricht mit Thomas Irmer über das artistische Erleben und schauspielerische Überleben in den Räumen von Aleksandar Denić für Inszenierungen von Frank Castorf:

 

Idee: Angela Lammert
Konzeptentwicklung und Koordination: Thomas Irmer und Caroline Rehberg
Mitarbeit: Tanja Krüger

Ein essayistisches Online-Projekt der Sektion Darstellende Kunst mit den Mitgliedern Bibiana Beglau, Christian Grashof, Klaus Völker sowie mit den Gästen Aleksandar Denić und Thomas Irmer