20.11.2012, 19 Uhr
Verleihung des Konrad-Wolf-Preises 2012 an Meg Stuart am 18. November
Am 18. November erhielt die Tänzerin und Choreografin Meg Stuart in der Blackbox am Pariser Platz den Konrad-Wolf-Preis 2012. Die 1965 in New Orleans geborene und in Berlin lebende Künstlerin leitete die Preisverleihung mit einem eigenen Solo ein, begleitet von dem Schlagzeuger Brendan Dougherty. Im Anschluss würdigte Johan Simons als Sprecher der Jury aus Mitgliedern der Sektion Darstellende Kunst ihren „grausamen und zarten“ Stil und ihren Mut, die Arbeit an jeder neuen Produktion „bei Null“ zu beginnen. Meg Stuart dankte sehr persönlich und äußerte sich im Anschluss in einem– bei ihr seltenen – öffentlichen Gespräch mit Bettina Masuch und Johan Simons über die Grundlagen ihrer Arbeit.
LAUDATIO auf MEG STUART, gehalten von Johan Simons
1991, das Klapstuk-Festival in Leuven.
Disfigure Study – eine Studie über Körperteile, über die Verzerrung.
Meg Stuart ist ein neuer Namen, eine neue Stimme. Ein neuer Stil. Grausam und zart.
Das Publikum ist begeistert.
„Alle Performer werden als beschädigte Waren gezeigt“, schreibt ein amerikanischer Kritiker.
Damaged Goods, so nennt Meg Stuart die Kompanie, die sie in Brüssel gründete und die sie bis heute leitet.
Die neuen Produktionen werden in Brüssel, Berlin, Wien, Lissabon, Zürich, Rotterdam, Paris, Kopenhagen, München und New York gemacht und gezeigt.
No Longer Readymade.
No One is Watching.
Highway 101.
Alibi.
Visitors Only.
It's not Funny.
Blessed.
Maybe Forever.
Do Animals Cry.
Built to Last.
Und viele, viele Andere.
Jedes Projekt ist eine Zusammenarbeit mit neuen Künstlern. Jedes Projekt entsteht aus einer neuen Frage. Jedes Projekt wirft einen neuen Blick auf die Welt, oder besser gesagt: auf uns, die wir diese Welt bewohnen. Eine Umarmung, ein Spaziergang, ein Händedruck, laufen, lachen, die Tür öffnen, einen Witz reißen.
Der Alltag wird von Meg Stuart verzerrt, das Bekannte erkennt man nicht mehr wieder, das Komfortable ist total unsicher.
Tanz ist, meiner Meinung nach, eine Disziplin, in der der Nullpunkt das Wichtigste ist. Das Nicht-Wissen. Den Mut zu haben, nicht zu wissen. Meg Stuart hat diesen Mut. Bei jeder neuen Produktion verlässt sie die Sicherheiten und Gesetze, die sie bei ihrer letzten Choreografie entwickelt hat. Auch wenn sie sich selber dadurch widerspricht: Meg Stuart fängt immer wieder bei Null an. Beim Nicht-Wissen. Beim Suchen, wie bei jedem wirklichen Künstler, wie auch Konrad Wolf immer wieder neu anfing, immer ein Suchender war. Das Suchen, das Definieren von neuen Formen und neuen Fragen, das macht Meg Stuart zusammen mit ihren Tänzern, denn sie sind für sie unglaublich wichtig.
Immer wieder bei Null anfangen. Bei der Stille. ‘Silent Piece’, so heißt ein Lied von John Cage. Es wurde komponiert, um das Publikum zuhören zu lassen, um die Ohren zu öffnen, um die Konzentration aufzuwecken. “There is no such thing as silence”, hat John Cage über die Premiere des Konzerts gesagt.
“You could hear the wind stirring outside during the first movement. During the second, raindrops began pattering the roof, and during the third, people themselves made all kinds of interesting sounds as they talked or walked out.”
Für Meg Stuart ist die Nicht-Bewegung auch Tanz. Ein Körper ist immer ausdrucksvoll. Voller Eindrücke, voller Emotion, voller Verlangen. Jede Bewegung, wie klein auch, drückt Verlangen aus. Eine Bewegung braucht keine Pirouette zu sein, ein hoher Sprung oder ein Tour à l’air, wie das in meiner Zeit als Tänzer der Fall war. Es handelt sich nicht nur um Contractions oder Martha Graham Techniken. Bewegung ist auch: ein Finger, der sich knickt.
Ein Fuß, der sich in eine nicht gewollte Richtung dreht. Ein Körper, der sich plötzlich entspannt.
Der Mensch steht bei Meg Stuart zentral, nicht die Technik.
Das Unvermögen steht zentral, nicht die Virtuosität.
Die Emotion steht zentral, nicht der Intellekt.
Der Mut steht zentral, der Mut jeden neuen Augenblick mit einer großen Verletzbarkeit gegenüber zu treten, ohne falsche Sicherheiten.
Der Mut, seine Narben zu zeigen.
Der Mut zu akzeptieren, dass das Leben manchmal stärker ist, als wir Menschen.
Die Arbeit Meg Stuarts ist hypersensitiv. Sie umschreibt die unkomfortable Wahrheit anstatt eine weiche, warme Wirklichkeit.
Wir, die Jury, Elisabeth Schwarz, Bert Neumann und ich, finden, dass Meg Stuart wie ein Komet ist, eigenwillig auf ihrer eigenen Umlaufbahn, scheinbar still und dunkel, aber bei näherer Betrachtung leuchtet sie.
Deshalb freuen wir uns, ihr den KONRAD WOLF PREIS 2012 verleihen zu dürfen.