Berlin 1977 – eine „Bildergeschichte“ von Werner Düttmann

Werner Düttmann, Entwurf für eine Broschüre, 1977

Im Nachlass des Architekten Werner Düttmann (1921–1983) befindet sich eine ungewöhnliche Zeichnung, deren Entstehungsgeschichte bisher unbekannt war. Das A3-Blatt enthält zwölf nummerierte Felder, die kleine Skizzen zeigen. Gestrichelte Linien trennen die zwölf Bilder in vier Spalten und weisen konträr zur Nummerierung auf eine vertikale Leserichtung hin. Feld 1 zeigt ein männliches Porträt, die eine Hand nachdenklich zum Kopf führt; nachfolgend sind Grundrisse, Außenansichten und Innenräume zu sehen. Lediglich das fünfte Feld bleibt frei – eine rätselhafte Lücke in dem vor uns liegenden Storyboard. Aber welche Geschichte wird hier erzählt, für wen ist sie gedacht und in welchem Zusammenhang ist sie entstanden?

Der Zeichenstil Düttmanns, seine rasche, aber kraftvolle Linienführung, ist unverkennbar. Zunächst gibt er sein eigenes Konterfei im Feld 1 wieder, wir kennen die dickrandige Brille von Fotografien, gefolgt von einer -Auswahl seiner Bauten: Die Nr. 2 stellt das Brücke-Museum (1966) inmitten hoher Kiefern dar, 2a dessen eindeutig zu erkennenden Grundriss, 3 eine dortige Innenansicht. Nr. 4 zeigt den Blick in eine Kirche, auch hier gibt der Grundriss preis, dass es sich um St. Agnes in Kreuzberg (1966) handelt. In Nr. 6 und 7 ist das Akademiegebäude am Hanseatenweg (1960) abgebildet und in Nr. 8 ein orthogonaler Einblick in den großen Speisesaal der Mensa der TU Berlin (1966). Es folgen das Ku’damm-Eck (1972) mit der Nr. 9, der Kreuzberger Mehringplatz (1977) als Nr. 10 und 11 mit 11a sowie schließlich Nr. 12: St. Martin im Märkischen Viertel (1973). Die Grundrisse werden außer beim Mehringplatz immer mitgeliefert, hier sehen wir dafür eine Vogelschau nach Norden Richtung Friedrichstraße und damit einen Überblick über die städtische Szenerie.

Eine chronologische Anordnung der hier vorgestellten, im Zeitraum von 17 Jahren realisierten Architekturen wurde offenbar nicht angestrebt, eine typologische Reihung ist zunächst ebenso wenig erkennbar wie eine topografische. Zwar handelt es sich ausschließlich um Berliner Bauten des Architekten, jedoch baute Werner Düttmann ohnehin überwiegend in seiner Heimatstadt. Folgen die Bauten also frei und ungeordnet aufeinander? Düttmann selbst hat einmal Peter Pfankuchs Akademie-Katalog zu den Bauten von Hans Scharoun lobend hervorgehoben, denn er habe diese in „eine Ordnung gebracht, die nicht einfach der Chronologie folgt oder, ein anderes ebenso beliebtes wie stupides Ordnungsmittel, die Werke nach der Bauaufgabe sortiert vorzeigt. Er hat die Sinn-Zusammenhänge hergestellt.“

Der Sinnzusammenhang ergibt sich auch hier erst aus dem Kontext, in dem unser fragliches Blatt entstanden ist: Es wurde von Düttmann als Layoutvorlage für eine Broschüre angefertigt, die sich an anderer Stelle in seinem Nachlass erhalten hat. Ohne Impressum oder sonstige verlegerische Angaben, gesetzt in der Helvetica, trägt das schmale Heft lediglich seinen Titel, Ort und Datum: W. DÜTTMANN G. HEINRICHS P. J. KLEIHUES H. CH. MÜLLER J. J. SAWADE O. M. UNGERS BERLIN 1977. Unvermittelt startet es mit Düttmanns Beitrag als Abfolge von Schwarz-Weiß-Fotografien in der aus der Zeichnung bereits bekannten Reihenfolge seines Porträts und seiner Bauten – nun ohne Nummerierung. Das in der Vorlage rätselhafte, leer gebliebene Feld beinhaltet einen kurzen Lebenslauf des Architekten. Dieser wie auch die unter den Fotos befindlichen knappen Informationen zu den Bauten sind auf Englisch verfasst; die Beiträge der Kollegen schließen nahtlos an.

Die sechs Protagonisten der Broschüre hatten schon in dem von Liselotte Ungers ebenfalls 1977 edierten deutsch-englischen Katalog 1776–1976. Zweihundert Jahre Berlin. Beispiele der Berliner Baugeschichte die Auswahl der Bauten nach 1900 in Form einer vergleichbaren, allerdings kommentierten Bildergeschichte vorgenommen. Dieser Katalog war ein Beitrag zum „Berlin Now“-Programm des New Yorker Goethe-Hauses im Frühjahr 1977, an dem auch die Akademie der Künste, Berlin, beteiligt war, von der New York Times mit „A Starburst of Culture from Berlin“ betitelt. Im Rahmen der Veranstaltung wurde auch das Thema „Urbanismus“ behandelt, und sowohl Düttmann als auch seine Kollegen hielten Vorträge am Cooper Hewitt Museum unter dem Titel „Berlin – Profil einer Metropole“. Zugleich präsentierten sie ihre wichtigsten Bauten und Projekte in Berlin in einer kleinen Ausstellung, zu deren Anlass die Broschüre erschien. Die Bauten Düttmanns und seiner Architekten-Freunde sind frühe Beispiele für eine Kanonisierung der Nachkriegsmoderne in Berlin – was die Verunstaltung oder gar den Abriss von nicht wenigen dieser Bauten jedoch nicht zu verhindern vermochte.

Die vorliegende Layoutvorlage mit den Zeichnungen fertigte Düttmann nicht etwa aus dem Kopf an, sondern er machte sich einen Spaß daraus, bereits bestehende, von ihm für diesen Zweck ausgewählte Abbildungen – Fotografien und Grundrisse – nachzuzeichnen und so eine ungewohnte mediale Folge, einen Zirkel zum Entwerfenden zurück, herzustellen: Der Architekt zeichnet die bevorzugten Fotos seiner favorisierten Bauten nach – und sich selbst gleich mit.

Die Anordnung der Bauten Düttmanns auf dem Blatt folgt der Logik der Broschüre im A4/2-Format, die in japanischer Bindung hergestellt wurde – jeder Architekt hatte somit zwei A4-Blätter zur Verfügung, die einseitig bedruckt und eingefaltet wurden: Man liest die Felder in der ersten vertikalen Reihe von oben nach unten, in den mittleren beiden vertikalen Reihen, die in der Broschüre die Doppelseite bilden, jedoch paarweise über den Falz nach unten, die letzte wieder einfach nach unten. Ihre Ordnung gibt sich erst jetzt als typologisch motiviert zu erkennen: In der letzten Reihe gruppiert Düttmann seine „Saalbauten“ zueinander, Kirchenraum und Mensa waren für ihn ganz offensichtlich verwandte Bauaufgaben – menschliche Individuen gemeinsamen Interesses befinden sich zusammen in einem Raum. Das Ku’damm-Eck auf der ersten Seite wird Düttmann vielleicht deshalb ausgewählt haben, weil es sein „amerikanischster“ Bau gewesen ist, eine Shoppingmall mit hochmoderner Medienwand. Und auch die nachdenkliche Geste klärt sich im Abgleich mit der fotografischen Vorlage: Die Hand am Kopf hält in Wahrheit eine Zigarette.


Autorin: Sibylle Hoiman, Leiterin des Baukunstarchivs der Akademie der Künste.

Erschienen in: Journal der Künste 15, März 2021, S. 64-65