In der Überhöhung steckt oft mehr Wahrheit als im Zwang, etwas realistisch zu gestalten
Enfant terrible, Skandalregisseur, liebenswerter Provokateur, Politclown, sympathischer Entertainer etc. – dies waren typische Etiketten, mit denen der Name Christoph Schlingensief versehen wurde. Doch wie unzureichend derlei Schlagwörter auch sein mögen, um dem Schaffen eines Ausnahmekünstlers gerecht zu werden, verdeutlichen sie doch eines: Gleichgültigkeit rief sein Werk wohl bei kaum jemandem hervor. Wie wenige andere Künstler zog er ein enormes Maß an Aufmerksamkeit auf sich. Gerade in seinen letzten Lebensjahren hatte er einen Bekanntheitsgrad erreicht, der wohl nur mit dem eines Pop- oder Filmstars vergleichbar ist. Seit den Anfängen seiner Theaterarbeit an Frank Castorfs Volksbühne zu Beginn der 1990er Jahre wurde seine Arbeit publizistisch intensiv begleitet. Umstritten war bereits sein filmisches Schaffen – die Meinungen der Kritiker reichten von „absolut sehenswert“ bis hin zu „ekelerregend“. Doch war die Resonanz nicht vergleichbar mit der medialen Aufmerksamkeit, die seine Aktionen und Performances, Theater- und Opernarbeiten, die Parteigründung, seine Talkshows und Installationen erlangten. Mit Vehemenz und großer Emotionalität wurde über die Bedeutung Schlingensiefs diskutiert und polemisiert. Auf der einen Seite wurde er bejubelt und gefeiert, bisweilen sogar im höchsten Maße verehrt, auf der anderen als Scharlatan abqualifiziert.
Schlingensiefs Werk fordert(e) das Publikum und überfordert(e) es sicherlich auch häufig, sowohl gestalterisch als auch thematisch. Als knapp 30-Jähriger inszenierte er die deutsche Wiedervereinigung als einen „bluttriefenden, kannibalischen Akt der Einverleibung des Ostens durch den Westen“1, als einen Rückfall in die Barbarei. „In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es unwichtig, ob etwas gut ist oder schlecht.“ Diesen Satz lässt Schlingensief den Darsteller Alfred Edel im Film Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) sagen. Überlieferte Gewissheiten scheinen nicht mehr zu gelten, auf die Euphorie und Gefühlsduselei der sogenannten Wende-Zeit folgte die ernüchternde Realität. Ganz in diesem Sinne formulierte es auch Schlingensief in einer Pressemitteilung: „Nach der Vereinigungssoße jetzt der Film zum Aufwachen!“ Das deutsche Kettensägenmassaker reiht sich als der zweite Teil in Schlingensiefs Deutschland-Trilogie ein (Erster Teil: 100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker [1989], Dritter Teil: Terror 2000 – Intensivstation Deutschland [1992]), in der sich der Regisseur mit Ereignissen und Debatten der deutschen Geschichte auseinandersetzte.
Nur wenige Wochen nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland hatte Das deutsche Kettensägenmassaker auf den Internationalen Hofer Filmtagen am 24.10.1990 Premiere, nach einer Produktionszeit von einem halben Jahr. Innerhalb weniger Wochen entstand das Drehbuch, und in nur zehn Drehtagen (Anfang bis Mitte April) war der Film in der Ruinenlandschaft des Thyssen-Stahlwerks in Duisburg-Meiderich „im Kasten“. Schlingensief reagierte also unmittelbar auf die damals aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse. Aus dem Film, den er zu diesem Zeitpunkt eigentlich zu drehen vorhatte und für den bereits Gelder durch die Filmförderung in Nordrhein-Westfalen bereitgestellt worden waren (Colonia Dignidad), wurde eine gänzlich andere Produktion, die vorerst noch den Titel „Spiel ohne Grenzen in den Grenzen von ’37“ trug.
Zu Beginn des Deutschen Kettensägenmassakers zeigt Schlingensief dokumentarisches Filmmaterial, Originalaufnahmen der Wiedervereinigungsfeier am 3.10.1990. Der Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, formulierte damals in seiner Ansprache: „Wir wollen die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewußt […].“ Was dann folgt, persifliert die Reden der Politiker mit ihren Versprechungen von blühenden Landschaften und entlarvt zugleich die Festlichkeiten als groß angelegte Inszenierung, etwa wenn Weizsäcker den um ihn stehenden Politikern am Ende seiner Rede den nächsten Punkt im Veranstaltungsablauf zuraunt: „Jetzt muss die Nationalhymne kommen.“ Die Handlung des Films ist schnell umrissen: Clara (Karina Fallenstein) beseitigt ihren Ehemann in Leipzig und fährt mit ihrem Trabi gen Westen, um mit ihrem westdeutschen Liebhaber (Artur Albrecht) zusammen zu sein. Gerade vereint, fällt das Paar in die Hände einer Metzgerfamilie (Alfred Edel, Dietrich Kuhlbrodt, Volker Spengler, Susanne Bredehöft, Brigitte Kausch, Reinald Schnell und Udo Kier), die alle Ossis, derer sie habhaft werden kann, zu Wurst verarbeitet. Clara selbst bleibt zwar verschont, muss aber mitansehen, wie die Familie Ostdeutsche jagt, metzelt und ausnimmt.
Der Film ist reich, ja überbordend an Symbolen, Metaphern und Zitaten. Bilder und Parolen des kollektiven gesellschaftlichen Bewusstseins (z. B. DDR-Bürger in Trabis, die über die Grenze fahren / „Wir sind das Volk“-Rufe) sind im Kettensägenmassaker ebenso zu finden wie Anspielungen auf den Massenmörder Fritz Haarmann, den Hitchcock-Klassiker Psycho und den US-amerikanischen Horrorfilm The Texas Chainsaw Massacre, der nicht nur für den Titel Pate stand. Eine hektische Handkamera, eine Vielzahl von sich überlagernden Geräuschen – überdrehte Stimmen, bekannte Lieder, der bedrohliche Sound der Kettensäge – alles wirkt stark überzeichnet, ist verfremdet und doppeldeutig. Versucht man sich an einer Interpretation, wird umso deutlicher, wie dicht, komplex und ausufernd Schlingensiefs (Bild-)Sprache ist. An Aktualität und Brisanz, so viel steht fest, hat sie bis heute nichts verloren.
Überschrift: Zitat von Christoph Schlingensief im Gespräch mit Frieder Schlaich, 2001
1 http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=f037, abgerufen am 18.12.2019
Autorin: Julia Glänzel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste.
Im Christoph-Schlingensief-Archiv befinden sich neben Werkunterlagen, Arbeitsmaterialien, Korrespondenzen, biografischen und geschäftlichen Unterlagen auch vereinzelte Objekte. Dabei handelt es sich sowohl um Gegenstände aus Filmen, Aktionen und Theaterinszenierungen, als auch um Sammlungsgut. 2009 übergab Christoph Schlingensief (1960–2010) seinen Vorlass an das Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste.
Erschienen in: Journal der Künste 12, März 2020, S. 42-43