Eine intuitive Kultur des Hörens
Er war nicht nur der „Entdecker“ der Zwölftonmusik, sondern auch ein Vorläufer der Minimal Music: Josef Matthias Hauer, 1883 in Wiener Neustadt am südlichen Rand des Wiener Beckens geboren, stand mit bedeu-tenden Künstlern seiner Zeit in Kontakt (etwa mit dem Bildhauer Fritz Wotruba und dem Philosophen Ferdinand Ebner), wurde öfter zum Vorbild literarischer Figuren (bei Hermann Bahr, Otto Stoessl, Franz Werfel) als seine Konkurrenten und blieb dennoch dem musikalischen Establishment suspekt. „Trotz vielen Nachahmern“ sei er „immer noch der einzige Kenner und Könner der Zwölftonmusik“, stempelte er erhobenen Hauptes in seine Partituren und griff damit deutlich den Spiritus rector der Zweiten Wiener Schule, Arnold Schönberg, an.
Zwölftonmusik sei „die Musik, die Kunst aller Künste, die Wissenschaft aller Wissenschaften“, fügte er handschriftlich am Ende der Partitur zur Zwölftonmusik op. 82 für Orchester an, um alle Zweifel an der übergeschichtlichen Bedeutung seiner Entdeckung der ewigen Gesetze vom „Melos“ und von den „Tropen“ zu beseitigen. Doch die Vertreter der Schönbergschule, die auf der vorherrschenden Ausdrucksästhetik beharrten, verlachten den kauzigen Außenseiter, der im Alter mit seiner prägnanten Hornbrille, seinem Schnurr- und Kinnbärtchen und seinen eingefallenen Wangen aussah wie ein chinesischer Weiser, und haben es bis heute geschafft, Hauer weitgehend aus der Diskussion über die Musik des 20. Jahrhunderts auszuschließen. Nach ihrem Begriff von Musik lässt sich Hauers Kunst nicht fassen. Zu denken gab ihnen nur die Tatsache, dass die vom Dirigenten Hermann Scherchen herausgegebene Zeitschrift Melos 1921 nicht nur theoretische Texte Hauers, sondern in einer Notenbeilage auch dessen Präludium für Celesta aus demselben Jahr veröffentlichte, das Alban Berg sofort auf Zwölftonfelder hin untersuchte.
Einer intuitiven Kultur des Hörens wollte Hauer dienen und vereinigte in seiner Musikanschauung fernöstliche, theosophische und anthroposophische Elemente. Während Schönberg mit seiner Methode der Komposition mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ eigentlich eine vollkommene Polyphonie anstrebte, womit er „die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre“ sicherzustellen hoffte, wandte sich Hauer gegen die idealistische Musikkultur des Abendlandes, die er mit den Begriffen des Schauens, Begreifens und Vergleichens verband. Am Ende der Partitur seiner Zwölftonmusik für neun Soloinstrumente op. 73 aus dem Jahr 1937 fasste Hauer in seiner akkuraten Volksschullehrer-Handschrift zusammen: „Das Musikalisch-Mathematische, das Intuitive muß den höchsten Rang im geistigen Leben des Menschen einnehmen, weil es mit der Wahrheit und Wirklichkeit, mit der ‚geistigen Realität‘ in engster Fühlung lebt, zum allüberschauenden Gipfel menschlicher Erkenntnis führt, zum großen Welterleben, während das Begrifflich-Wortsprachliche, das Ideenhafte nur zu leicht ‚tendenziös‘ in Geschwätz und Lüge ausartet: in Polemik, Dialektik, Sophistik; Philosophie, Anthroposophie, Theosophie; Theologie, Ideologie, Pneumatologie; Phänomenalismus, Spiritismus, Okkultismus.“
Nur noch kurze Zeit sollte Hauer seine Kompositionen mit Opusnummern versehen. In den verbleibenden zwei Dekaden seines Lebens verfasste er über 1.000 Zwölftonspiele ohne individuelle Bezeichnung: Beispiele für eine von kompositorischer Intention weitgehend befreite Musik, wie sie, wiederum von anderen, erst viel später realisiert wurde. Er habe in seinem ganzen Leben nur ein einziges Werk geschrieben, behauptete Hauer von sich selbst.
Mehrere autographe Partituren Hauers befinden sich im Nachlass des Dirigenten Hermann Scherchen im Musik-archiv der Akademie der Künste. Es ist bezeichnend, dass Scherchen, der immer auf der Suche nach dem Neuen und Ungewöhnlichen in der Kunst war und in seinen späten Jahren sogar elektronische Musik und Jazz förderte, auch Künstler gelten ließ, die mit seinen künstlerischen Überzeugungen nicht von vornherein übereinstimmten. Scherchen war mit Hauer in persönlichem Kontakt und nahm einige von dessen Werken nicht nur in das Programm seines „Ars Viva“-Verlags auf, sondern dirigierte seine Musik auch, wovon die handschriftlichen Eintragungen in das Autograph von op. 73 zeugen. Es ist verständlich, dass er hauptsächlich Bezeichnungen zur Dynamik (dem Lautstärkeverlauf) ergänzte, war dies doch gerade der Bereich, in dem Hauers Musik im Ohr des Hörers am ehesten Defizite aufwies und der vom Komponisten selbst mit Vorsatz nicht präzisiert wurde, um jeden individuellen Ausdruck zu vermeiden. Überhaupt scheinen Vortragsbezeichnungen, die in der Schönbergschule oft in übergroßer Zahl Verwendung fanden, für Hauers Musik keine Relevanz zu haben. Die Anweisung „Vortrag je nach Melos“ am Beginn einer Komposition scheint für seine Musik vollkommen genügt zu haben.
Autor: Werner Grünzweig, Leiter der Musikarchive an der Akademie der Künste
Abbildung: Schlussklang von Josef Matthias Hauers Zwölftonmusik op. 82 aus dem Jahr 1939 mit Nachbemerkung des Komponisten. Das Autograph befand sich im Besitz des Dirigenten Hermann Scherchen und wird heute als Teil seines Nachlasses im Musikarchiv der Akademie der Künste aufbewahrt. Hauer bezeichnete sich selbst als den „Entdecker" und nicht den „Erfinder" der Zwölftonmusik und meinte damit, dass die Zwölftonmusik keinen individuellen Schöpferakt repräsentiere, sondern die aller Schöpfung innewohnenden Gesetze widerspiegele, die er lediglich hörbar gemacht habe. Das Zwölftonspiel war wohl auch Anregung für Hermann Hesses 1943 erschienenen Roman Das Glasperlenspiel, in dem der Autor jene Kunstübung als „ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur" charakterisierte. „Denn wie jede große Idee hat [das Glasperlenspiel] eigentlich keinen Anfang, sondern ist, eben der Idee nach, immer dagewesen."
Der Stempel, den Hauer seit 1937 unter seine Signatur setzte, sollte, nachdem Schönberg und er in den 1920er Jahren sogar ein gemeinsames Buch zu dem Thema in Erwägung gezogen hatten, seine polemische Distanz zu Schönbergs Methode der „Musik mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" dokumentieren.
Erschienen in: Journal der Künste 06, April 2018, S. 42-43