15.1.2024, 10 Uhr
Die Frau auf dem Motorrad –
Ruth Berlau zum 50. Todestag
Anlässlich des 50. Todestages von Ruth Berlau (1906-1974) hat das Archiv der Akademie der Künste einen Text der Autorin, Schauspielerin, Regisseurin und Fotografin aus ihrem Nachlass ausgewählt. Der undatierte Text über eine Demonstration zum 1. Mai in Kopenhagen (vermutlich 1937 oder 1938) wurde aus dem Dänischen übersetzt und wird hier erstmals veröffentlicht.
Ruth Berlau wurde 1906 in Charlottenlund, einer wohlhabenden Villenvorstadt von Kopenhagen, geboren. Als Tochter einer bürgerlichen Familie verlebte sie eine turbulente Jugend, die geprägt war vom Selbstmordversuch der Mutter, von dem Auseinanderfallen der Familie, dem Schulabbruch mit 13 Jahren, sowie einem Schwangerschaftsabbruch. Berlaus Leben als junge Frau im Kopenhagen der 1930er Jahre war vom Versuch geprägt, selbstbestimmt zu leben. Dabei hatte sie keine Angst, sich in neue Projekte zu stürzen: So fuhr sie 1928 mit dem Fahrrad quer durch Europa und schrieb darüber für eine Zeitung. Sie wurde Schauspielerin des königlichen Theaters. Als Kommunistin war sie Mitbegründerin des Kopenhagener „Revolutionären Theaters“, einer Arbeiter-Amateurtheatergruppe, die 1933 bei der Moskauer Internationalen Arbeitertheater-Olympiade den ersten Preis gewann. Im selben Jahr lernte sie Bertolt Brecht kennen und arbeitete mit ihm an mehreren Produktionen, die während seines dänischen Exils zwischen 1933 und 1939 entstanden. Berlau wurde zu seiner Weggefährtin und engen Mitarbeiterin. Als Fotografin dokumentierte sie viele seiner Stücke. 1935 veröffentlichte Berlau den Roman „Videre“ und 1940 die Novellensammlung „Ethvert dyr kan det“ (deutsch: „Jedes Tier kann es“), die in Zusammenarbeit mit Brecht entstand.
Berlaus Kurzgeschichten haben oft Protagonistinnen, die sich darin gleichen, dass auch sie nach einem selbstbestimmten Leben in einer von Männern dominierten Welt suchen. Sie war eine rastlose Seele und startete viele Projekte, hatte aber mitunter nicht die Ausdauer, diese zu Ende zu bringen. So blieben viele Schriften aus der Zeit überwiegend unvollendet und unveröffentlicht.
1960 übergab Berlau dem Archiv der Akademie der Künste erste Dokumente aus ihrem Besitz, mit denen das Ruth-Berlau-Archiv eröffnet wurde. Nach ihrem Tod folgte der Nachlass. Darin findet sich der untenstehende kurze Text, der aus Anlass von Berlaus 50. Todestag am 15. Januar 2024 ausgewählt, aus dem Dänischen übersetzt und hier erstmals veröffentlicht wird. Das Typoskript wurde von Berlau zusammen mit anderen kurzen Texten abgelegt, die vermutlich ebenfalls um 1937 oder 1938 niedergeschrieben wurden. Brecht hatte Berlau ermutigt, sich durch das Notieren von Erlebnissen im Schreiben zu üben. Die so entstandenen Miniaturen halten Beobachtungen und Ereignisse aus der Kopenhagener Zeit fest. Einige beruhen auf Impressionen aus der Theaterwelt oder stellen Anekdoten aus ihrer Arbeit im Revolutionären Theater dar. Die Texte liegen zum Teil in mehreren Fassungen vor.
Der ausgewählte Beitrag beschreibt eine Demonstration zum 1. Mai in Kopenhagen. Berlau beobachtet das Geschehen von ihrem Motorrad aus. Dadurch nimmt sie eine distanzierte Rolle ein und charakterisiert sich gleichzeitig als eine moderne und emanzipierte Frau. Berlau erweist sich in ihren Miniaturen als engagierte, genaue Beobachterin mit einem Sinn für Details.
Zu diesem Text hat Brecht eine Skizze angefertigt, welche die Schauplätze der Demonstration und ihre topographische Anordnung illustriert. Zu sehen ist im Mittelpunkt das Regierungsviertel, südlich davon Amager, östlich der Hafen, im Westen Grønttorvet (heute Israels Plads) und im Norden das im Text beschriebene feine Wohnviertel Frederiksstaden. Die Fahne in der linken, oberen Ecke markiert den Park, in dem der sozialdemokratische Ministerpräsident Thorvald Stauning seine Rede hielt.
Text von Ruth Berlau aus: Akademie der Künste, Berlin, Ruth-Berlau-Archiv, Nr. 298
Der erste Mai ist ein Feiertag, und am Morgen buddeln die Arbeiter in ihren Kleingärten, säen Radieschen und pflanzen Stauden. Andere malen Transparente für die Demonstration und holen Fahnen aus den Gewerkschaftsbüros. Gegen ein Uhr beginnen die Arbeiter, sich zu sammeln. Jene aus Amager kommen über die Brücken Knippelsbro und Langebro. Von Refshaleøen die Werftarbeiter von Burmeister & Wain. Unten in Nyhavn sammeln sich die Hafenarbeiter und aus dem internationalen Seemannsclub strömen Seeleute aus allen Ländern mit ihren dänischen Genossen. Die Metallarbeiterinnen gruppieren sich in Nørrebro. Die Textilarbeiterinnen vereinen sich vor der Fabrik von Hannibal Sander. Die Brauereiarbeiter stehen startklar vor der Tuborgfabrik und warten auf ihre Kollegen von den Carlsberg-Brauereien. Tabak- und Schuharbeiter, Tischler, Schneider und Kellner scharen sich am Grønttorvet. Das Ziel ist der Fælledparken, wo Ministerpräsident Stauning spricht.
Ich fahre mit meinem Motorrad neben einem der Demonstrationszüge entlang, die durch die Arbeiterviertel von Nørrebro ziehen. Die Fenster sind geöffnet und Lieder werden mitgesungen. Ich beschleunige das Tempo, fahre am Aufzug vorbei in Richtung Kongens Nytorv, von wo sich ein weiterer Zug nähert. Die ruhige Bredgade hallt von Gesang und Schritten wider. Die Stadtpalais sind still und verlassen. Aus einem Hutsalon, in dessen Schaufenster nur ein Hut und ein Schleier zu sehen sind, schaut eine Verkäuferin hinter dem Vorhang hervor. Im Juweliergeschäft von Dragsted liegen schwerer, ziselierter Schmuck und leichte Perlenketten. Ich wende das Motorrad und fahre weiter, dem Korso folgend. Die Gewerkschaftsfahnen werden von großen Fäusten hochgehalten. Aus einer Seitenstraße kommt eine weitere Kolonne an, und wir müssen eine halbe Stunde warten, um uns hinten anzuschließen. Straßenbahnen und Autos kommen zum Stehen, bleiche Gesichter schauen aus den Fenstern, geschminkte Frauen zünden sich in den wartenden Autos unablässig Zigaretten an.
Vor der Demonstration sehe ich Polizisten, dahinter Polizisten und entlang des Zuges Polizisten mit Gummiknüppeln. In der Mitte demonstrieren Studenten mit ihren Transparenten. Einen großen Raum in der Kolonne nehmen die unorganisierten Arbeitslosen ein. Ich bekomme Lust, vom Motorrad zu steigen und mich einzureihen: Soll ich mit den Schmieden gehen? Mit den Studenten? Oder mit den Unorganisierten? Ich bin zwar organisiert, doch meine Gewerkschaft ist nicht vertreten.
Draußen im Park auf der Tribüne bildet sich bereits ein Meer aus roten Fahnen mit dem Gewerkschaftssymbol. Nachdem alle Gewerkschaften ihre Flaggen bei der Tribüne aufgestellt haben, sprechen die Gewerkschaftsführer und schließlich Stauning über die großartigen Erfolge, die die Arbeiterklasse mit Hilfe des Sozialismus erreicht hat. Das Volk isst heiße Würstchen und trinkt Bier.
Einleitung und Übersetzung aus dem Dänischen von Eva May
Für Rückfragen zum Ruth-Berlau-Archiv: Dr. Franka Köpp