4.11.2022, 14 Uhr
Georg-Büchner-Preis 2022 an Emine Sevgi Özdamar
Die in der Türkei geborene Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar erhält am 5. November 2022 den renommierten Georg-Büchner-Preis für ihr Lebenswerk. Wir freuen uns mit ihr und gratulieren herzlich zu der Auszeichnung.
Im Oktober 2021 wurde das Archiv von Emine Sevgi Özdamar feierlich an der Akademie der Künste eröffnet. Die Leiterin des Literaturarchivs, Gabriele Radecke, hat zu diesem Anlass eine Rede gehalten, aus der die Vielseitigkeit Özdamars hervorgeht, die in der Literatur ebenso wie in der Theaterwelt beheimatet ist, sich aber auch als Bildende Künstlerin betätigt hat. Die Rede ist hier in gekürzter Form abgedruckt.
Auszug aus der Rede zur Archiveröffnung am 19. Oktober 2021:
Einführung in das Emine-Sevgi-Özdamar-Archiv
Archive von Künstlerinnen und Künstlern spiegeln die individuelle Persönlichkeit und Kreativität ihrer Urheber wider. Das gilt insbesondere für das Archiv von Emine Sevgi Özdamar, dessen erster Teil dem Literaturarchiv der Akademie der Künste übergeben wurde. Er umfasst drei laufende Meter Werkmanuskripte, Korrespondenz mit Verlagen und Autoren, Material zu internationalen Lesereisen und viele Examensarbeiten über Özdamars Texte. Hinzu kommen etwa 200 Bände ihrer Bibliothek.
Zu den Spitzenstücken zählen die Notiz- und Skizzenbücher aus ihrer Tätigkeit als Regieassistentin. Es handelt sich um Hefte mit zeichnerischen Skizzen von Figuren und Stellpositionen in Verbindung mit Regieanweisungen, die während der Theaterproben entstanden sind. So erinnert sich Sevgi Özdamar in ihrem Roman Seltsame Sterne starren zur Erde: „Ich setzte mich in eine Ecke und zeichnete und notierte alles, was ich sah und hörte, in ein Schulheft.“
200 dieser Schulhefte sind überliefert, die einerseits wenig bekannte Einblicke in die Bühnenpraxis geben. Andererseits stellen sie eine weitere künstlerische Facette der Autorin vor: Sevgi Özdamar als Bildende Künstlerin.
Die Skizzenhefte bezeugen zudem die Zusammenarbeit mit den beiden Regisseuren Benno Besson und Fritz Marquardt an der Berliner Volksbühne. So auch dieses Blatt, das die Bühnenproben zu Heiner Müllers Drama Die Bauern vor Augen führt.
Heiner Müller hatte seit 1956 an dem Bühnentext geschrieben, der unter dem Titel Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande aufgeführt werden sollte. Weil die SED das Stück für konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch erklärte, wurde es nach der Uraufführung in Berlin-Karlshorst im September 1961 vom Spielplan abgesetzt. Heiner Müller wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und bis 1973 wurden keine Stücke mehr von ihm in der DDR gespielt. Nachdem er das Stück überarbeitet und den programmatischen Titel in das neutrale Die Bauern umformuliert hatte, kam es 1976 erst zu einer Wiederaufnahme. Sevgi Özdamar begleitete die Proben dieses brisanten Werks in der Regieassistenz unter Fritz Marquardt. Und sie übernahm auch eine kleine Rolle.
Betrachtet man sich das Blatt aus dem Skizzenbuch nun etwas genauer, dann fällt nicht nur der überdimensional große und im Detail gezeichnete Polizist auf, sondern noch etwas anderes, das in den späteren handschriftlichen Blättern nicht mehr in dieser Dichte zu finden ist: der Wechsel von der türkischen Muttersprache in die deutsche Fremdsprache.
Ein anderes Blatt ist den Probenaufzeichnungen zu Shakespeares Hamlet entnommen. Das Drama wurde im April 1977 ebenfalls an der Volksbühne unter der Regie des Brecht-Schülers Benno Besson gespielt in einer eigens dafür angefertigten Übersetzung von Heiner Müller und Matthias Langhoff. Sevgi Özdamar hatte es zu dieser Bühne hingezogen, weil sie das Brechttheater vor Ort von Benno Besson lernen wollte. Auch darüber und über ihr Pendeln im geteilten Berlin erzählt sie in ihrem Roman Seltsame Sterne starren zur Erde.
Auf dem Blatt sind verschiedene Stellpositionen im dritten Aufzug im Kabinett der Königin aufgeführt: zwischen Hamlet, seiner Mutter der Königin und dem Geist, der langsam weggeht, was durch 5 Lamellen am oberen Rand angedeutet ist. Die Zeichnungen sind schwungvoll gestaltet durch detailreiche Einzelskizzen, die den Wechsel zwischen den verschiedenen Figurenpositionen andeuten.
Das letzte Beispiel gibt Einblicke in die Arbeitsweise der Bühnenautorin Özdamar. Es ist eine Seite aus dem Typoskript ihres ersten schriftstellerischen Werkes: Karagöz in Alamania, das 1982 entstanden ist. Das Blatt dokumentiert viele handschriftliche Überarbeitungsspuren.
Die sozialkritische Komödie, die von der sogenannten ersten Gastarbeitergeneration handelt, ist nicht nur Özdamars Debüt als Schriftstellerin. Es ist auch das erste deutschsprachige Bühnenwerk einer türkischen Autorin, das auf einer großen Bühne gespielt wurde: 1986 im Schauspielhaus in Frankfurt am Main unter Özdamars Regie. Der türkische Titel Karagöz in Alamania ist zweideutig. Zum einen spielt er auf die Titelfigur Karagöz (in der deutschen Übersetzung Schwarzauge) an. Zum anderen zielt sie auf das sehr beliebte türkische Schattentheater Karagöz, dessen satirisch-possenhafte Stilelemente Sevgi Özdamar übernommen hat.
Das Archiv von Emine Sevgi Özdamar wurde von Helga Neumann teilerschlossen und in der Archivdatenbank verzeichnet. Es steht der Forschung und interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung.
Gabriele Radecke
Literaturarchiv der Akademie der Künste
Das Emine-Sevgi-Özdamar-Archiv in der Archivdatenbank
Emine Sevgi Özdamar ist seit 2017 Mitglied der Sektion Literatur.