1.10.2021, 09 Uhr
Der Jeep und die Firma oder Wie Sinn und Form zur Akademie der Künste kam
© Akademie der Künste
„Sie haben recht“, schreibt Peter Huchel am 18. Oktober 1962 aus Wilhelmshorst bei Potsdam an Fritz J. Raddatz in Reinbek bei Hamburg, „ich bin von meinem alten Jeep gesprungen. Aber mir paßte nicht der Anstrich, mit dem der Wagen versehen werden sollte. Und noch weniger der mir offerierte Beifahrer; den kenne ich allzu gut. Wenn er sich einmal, durch Zufall, für die Firma verfährt, dann steigen ihm sofort Tränen in die Augen. Und was mich anlangt, so hat er oft genug versucht, mir Nägel auf die Fahrbahn zu streuen. Und überhaupt: in dieser Kumpanei ist keine steile Kurve zu nehmen. Vierzehn Jahre, eine lange Zeit. Erst jetzt merke ich, wie sehr ich an diesem verbeulten Vehikel hänge.“
Raddatz, damals Cheflektor des Rowohlt Verlags, wird die Entschlüsselung dieser von Ost nach West übermittelten Rallye-Fabel keine große Mühe bereitet haben. Er weiß, dass es um Huchels Entlassung als Chefredakteur von Sinn und Form geht. Der alte Jeep steht für die Zeitschrift, der Beifahrer für den als Aufpasser vorgesehenen Bodo Uhse, die Firma für Huchels Arbeitgeber, die Deutsche Akademie der Künste in Ost-Berlin. Dass sein Vehikel so verbeult ist, hat viel mit den von ihr ausgelösten Karambolagen zu tun. Dass es überhaupt noch fährt, verdankt es ihr allerdings auch.
Als 1949 das erste Heft im Verlag Rütten & Loening erscheint, gehört die Zeitschrift noch zu keiner Institution. Die beiden Gründer, Johannes R. Becher und Paul Wiegler, haben eine „repräsentative literarische Umschau – nicht nur für die Ostzone – sondern für ganz Deutschland“ im Sinn, die dem „Geist der Sprache und der Dichtung“ dienen sowie den „Geist der Humanität und des Sozialismus“ vermitteln soll. Für den Posten des Chefredakteurs fällt ihre Wahl auf den parteilosen Peter Huchel, zuvor Künstlerischer Direktor im Berliner Haus des Rundfunks, der gerade seinen ersten Gedichtband im Aufbau Verlag herausgebracht hat. Die Zeitschrift erlangt im In- und Ausland schnell großes Ansehen. Aber Huchel merkt, dass das Niveau des ersten Jahrgangs mit der schlechten finanziellen Ausstattung (Miete, Licht, Reparaturen müssen von seinem Gehalt bezahlt werden), den fehlenden Devisen und der isolierten Lage (die Redaktion befindet sich im Westsektor) auf Dauer nicht zu halten ist.
1950 beschließt die Akademie, die als herausragendes literarisches Periodikum inzwischen etablierte, wirtschaftlich aber weiterhin defizitäre Zeitschrift zu übernehmen und sie der Sektion „Dichtkunst und Sprachpflege“ anzugliedern. Das erste Heft mit dem Vermerk „Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Künste“ erscheint als Nummer 5/1950. In seiner Vorbemerkung „Zur Übernahme der Zeitschrift“ macht Präsident Arnold Zweig klar, was man sich von dem neuen Akademieorgan erwartet: Auch das „Sittliche und Gerechte“ gehöre „zu den Voraussetzungen der Schönheit“, die Aufgabe der Literatur könne nicht darin bestehen, „die Leistungen von Vers und Prosa gewalttätig oder ziervoll in die Höhe zu schrauben, solange nicht im Grundbau der Gesellschaft eine gerechtere Ordnung“ walte. Man sei, zitiert er den ungenannt bleibenden Rudolf Borchardt, „der Appetite furchtbar satt, die Welt ist voller Hunger“. In diesem Sinne verstehe die Akademie Sinn und Form „als ihr Sprachrohr und ihr geistiges Visier“.
Der kurze Text enthält schon zahlreiche der kleineren und größeren Schlaglöcher, die Huchels Jeep in den folgenden Jahren immer wieder aus der Bahn zu werfen drohen. Manchen kann er dank prominenter Unterstützer wie Bertolt Brecht oder Hanns Eisler gerade noch ausweichen, in andere fährt er fast mutwillig hinein. Die 1950 neu gegründete Akademie steht unter besonderer Aufsicht der SED und soll deren kulturpolitische Vorgaben mit aller Autorität umsetzen. Dafür werden Richtlinien erlassen und Kommissionen gegründet, die Übereinstimmung der Programmarbeit mit den offiziellen Vorgaben wird streng überwacht. Der ursprünglich gesamtdeutsche Anspruch der Akademie, für den auch die Zeitschrift steht, wird zugunsten der Zwei-Staaten-Lösung und einer klaren Ostblockzugehörigkeit aufgegeben. Die Kunst soll dem Aufbau des Landes dienen und sich von allem, was als westlich oder dekadent gilt, abgrenzen. Ernst Barlach, dessen Dramenfragment „Der Graf von Ratzeburg“ Huchel in seinem ersten Akademieheft bringt, wird von Wilhelm Girnus im Neuen Deutschland als rückwärtsgewandt, formalistisch, kleinbürgerlich diffamiert, auch gegen andere als zu liberal oder elitär empfundene Autoren und Beiträge regt sich ideologischer Widerspruch. In den Sektionssitzungen muss sich Huchel immer wieder gegen den Vorwurf verteidigen, „politisch und künstlerisch“ unfähig zu sein, „die Zeitschrift Sinn und Form verantwortlich weiter zu redigieren“. Vor dem Rauswurf kann ihn lange Zeit nur Brecht bewahren.
Schon im März 1952 beklagt sich Huchel bei Hans Henny Jahnn, dass er „seit der Übernahme der Zeitschrift durch die Deutsche Akademie der Künste nicht mehr die volle Aktionsfreiheit“ besitze, er habe schon „manches einstecken müssen“. Dass die eigentlichen Krisen noch vor ihm liegen, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass Sinn und Form nur unter dem Dach der Akademie weiter existieren kann, ist ihm allerdings klar. Als er das Steuer abgeben muss, ist die Zeitschrift längst zum Ort intensiver Debatten und zum Organ der Mitglieder geworden, die hier auch jene Texte publizieren können, die den offiziellen Vorgaben zuwiderlaufen. Ein Sprachrohr ganz anderer Art, als Arnold Zweig es sich vorgestellt hat. Und ein Jeep mit sehr eigenem Fahrstil. Daran ändert auch Huchels einstiger Widersacher Girnus nichts, als er ihn 1964 im Auftrag der Firma übernimmt.
Matthias Weichelt